01.06.2008

Das Gebet, das die Welt umspannt

Millionen von Menschen auf der ganzen Erde beten tagtäglich dieses Gebet. Ob im afrikanischen Busch oder in den Steppen Sibiriens, in den Wüstenregionen des Nahen Ostens oder in den Wohnungen unserer westlichen Gesellschaft; kein anderes Gebet verbindet Christen so stark miteinander wie das Vaterunser. In der Bibel finden wir dieses Gebet im Neuen Testament, in der Mitte der Bergpredigt, in der Jesus die zentralsten Aussagen seiner Botschaft der Errettung der Menschen wie in einem Kaleidoskop zusammenfasst.

Was ist das Besondere an diesem Gebet?

Das Vaterunser ist ein Gebet, das Gott als „liebenden Papa“ anspricht. Zudem beginnt es mit einem „unser“; damit ist zu allererst die Gemeinschaft der Gläubigen gemeint, der Menschen also, die an Jesus Christus glauben und ihn als ihren Retter angenommen haben. Daneben sehen wir, wie dieses Gebet Gott als dem Schöpfer und Erhalter des Universums die Ehre gibt und gleichzeitig für das Alltägliche im Leben eines jeden einzelnen bittet.

Dieses wahrhaft einmalige Gebet muss jedoch in jeder Zeit – auch der unseren – neu entdeckt werden, ansonsten verkommt es zum Ritual. In diesem Sinne ist es wichtig, dass wir uns immer wieder neu mit dem tieferen Sinn und den gedanklichen Zusammenhängen in diesem Gebet auseinandersetzen, um wieder neu davon ergriffen zu werden. Dieses Gebet lehrt uns Menschen – und zwar Menschen aller Zeiten, aller Rassen und aller Kontinente – Gott als unseren Vater im Himmel zu erkennen, der sich für dein und mein Leben interessiert und dich und mich unendlich liebt. Allein dieser Gedanke ist äußerst wertvoll. Denn das Bild vom liebenden Vater im Himmel ist und bleibt revolutionär und steht bis heute einmalig in der gesamten Reli­gionsgeschichte. In der Bergpredigt spricht Jesus – neben vielem anderem – auch über das Reden mit Gott. Er hebt hervor, dass wir Gott immer wieder von neuem bitten sollen, ja, ihn sogar anflehen, denn er wird die erhören, die zu ihm rufen
(Matth. 7, 7-11; Luk. 18, 1-8). Gleichzeitig sagt uns Jesus aber auch, dass wir auf Gott hören und auf sein Eingreifen warten sollen.

„Dein Name werde geheiligt“

Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir uns immer wieder vor Augen halten, dass wir nie völlig erfassen können, wie Gott ist. Schon in der Bibel finden wir Beispiele, in denen Gott den Israeliten sagen musste, dass er anders ist. Gott ist nicht nur heilig, er ist auch gerecht, nicht nur solidarisch, sondern auch allmächtig. Vor allem ist er liebevoll, konsequent und souverän. Wie heiligen wir nun seinen Namen? Indem wir uns von Gott etwas sagen lassen, uns von ihm verändern lassen und uns somit als „seine Kinder“, als „Kinder unseres Vaters im Himmel“ erweisen, die zu ihm kommen und ihr Leben mit ihm leben. Gottes Macht und Einfluss soll unser Leben von innen her erfassen. Wir sollen Gott von ganzem Herzen lieben. Das nannte Jesus das höchste Gebot.

Vaterunser – ein Mustergebet?

Das Vaterunser beginnt mit dem vertrauensvollen Aufblick zu Gott als unserem Vater und es endet mit einem Ausblick auf das Ziel aller Dinge. Dazwischen stehen sieben Bitten. Drei von ihnen beziehen sich auf Gott und sein Reich, eine auf unser irdisches Leben, drei auf unser ewiges Heil. Gottes Herrschaft, der Lauf der großen Welt und mein Leben sind im Vaterunser auf wunderbare Weise verbunden. In diesem Gebet sehen wir auch, wie sehr das Reich Gottes, das Heil der Menschheit und das Wohl der Welt auf das engste miteinander verknüpft sind. Gott und sein Reich stehen im Vaterunser an erster Stelle und unsere irdischen Dinge an der zweiten. Diese Reihenfolge ist schon allein deshalb so wichtig, weil wir Menschen nur von Gott her zu uns selber finden können. Erst wenn wir Gott den ersten Platz einräumen, beginnen wir, wahrhaft Mensch zu werden. Ohne Gott schwanken wir in der Regel zwischen Menschenvergötzung und Menschenverachtung. William Barclay hat darauf aufmerksam gemacht, dass der zweite Teil der Vaterunser-Bitten die drei wesentlichen Grundbedürfnisse des Menschen anspricht und zugleich die drei zeitlichen Bereiche umschließt, in denen jedes menschliche Leben sich bewegt.

  1. Die Bitte um das tägliche Brot, um das, was zur Erhaltung des Lebens erforderlich ist. Sie betrifft unsere Gegenwart.

  2. Mit der Bitte um Vergebung der Schuld bringen wir die Vergangenheit unseres Lebens vor Gott.

  3. Durch die Bitte um Hilfe in der Versuchung vertrauen wir Gott unsere Zukunft an.

Diese drei Bitten lehren uns, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gnade Gottes zu überlassen.  

Gott liebt uns Menschen

Die Bibel spricht davon, dass Gott sich nach Gemeinschaft mit uns Menschen sehnt. Dafür ist Jesus Christus selbst das beste Beispiel. Er hat uns vorgelebt, wie unsere Beziehung zu Gott sein sollte. So wie er vertrauensvoll mit seinem „Vater im Himmel“ gesprochen hat, können auch wir mit ihm sprechen und unser Leben im Vertrauen zu ihm führen. Eine solche Beziehung zu Gott ist jedem möglich, der an Jesus Christus glaubt, ihm vertraut und mit ihm sein Leben lebt. Wer diesen Weg geht, der wird verstehen, was Jesus meint, wenn er sagt, dass er der einzige Weg zu Gott dem Vater ist. Er ist der Lebensspender, Ziel und Heimat über den Tod hinaus und deshalb für uns Menschen von allergrößter Bedeutung. Dagegen sind alle Formen von Religion nur der Versuch, aus eigener Kraft und Weisheit den Weg zu Gott zu finden. Denn immer da, wo ein Mensch Jesus, der für uns starb, als den einzigen Weg zum Vater ablehnt, verkennt er das Problem unserer Schuld und der daraus resultierenden Verlorenheit des Menschen. Die Erfahrung zeigt es immer wieder: religiöses Leben kratzt vielleicht an der Oberfläche, doch es verändert und hilft nicht wirklich. Deshalb ist und bleibt es die Wahrheit, dass wir nur durch Jesus zu unserem Vater in den Himmel kommen. Jesus selbst sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh. 14, 6) Wer Gott in sein Leben einlädt, bei dem wird Gott beginnen zu wirken. Möglicherweise erlebt ein solcher Mensch schon bald darauf erstaunliche Veränderungen. Vielleicht treten diese Veränderungen aber erst später zutage. Wie auch immer. Gott verspricht uns in seinem Wort, dass er jeden Menschen ernst nimmt, der ehrlich und aufrichtig zu ihm kommt. Gott wird also antworten, wenn wir ernsthaft zu ihm beten und unser Leben nach seinem Willen ausrichten. Genau das verspricht die Bibel an mehreren Stellen. Wer nun daran glaubt und sich darauf verlässt, für den tritt ein, was Gott in seinem Wort verspricht. Allerdings ist es gut, wenn wir uns immer wieder daran erinnern, dass wir uns nicht ernsthaft als Christen bezeichnen können, wenn wir Gott nicht ehren. Denn ...

  • wie könnte ich zu Gott „Vater“ sagen, wenn ich nicht danach lebe?

  • Wie kann ich „unser“ sagen, wenn mir die anderen Menschen gleichgültig sind?

  • Wie kann ich „im Himmel“ sagen, wenn mein Interesse nur der Erde gilt?

  • Wie kann ich „geheiligt werde dein Name“ sagen, wenn ich gleichzeitig Gott lästere und fluche?

  • Wie kann ich „dein Reich komme“ sagen, wenn ich daran nicht interessiert bin?

  • Wie kann ich „dein Wille geschehe“ sagen, wenn ich nicht nach Gottes Willen für mein Leben suche?

  • Wie kann ich „wie im Himmel so auf Erden“ sagen, wenn ich die frohe Botschaft Gottes nicht weitersage?

  • Wie kann ich „unser tägliches Brot gib uns heute“ sagen, wenn ich nicht auch dazu bereit bin, mit meinen Möglichkeiten den Notleidenden zu helfen?

  • Wie kann ich „und vergib uns unsere Schuld“ sagen, wenn ich mein Unrecht nicht zugebe?

  • Wie kann ich „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ sagen, wenn ich Groll gegen andere Menschen mit mir herumtrage?

  • Wie kann ich „und führe uns nicht in Versuchung“ sagen, wenn ich selbst in der Versuchung bleiben will?

  • Wie kann ich „sondern erlöse uns von dem Bösen“ sagen, wenn ich mich ganz bewusst nicht von dem Bösen trennen will?

  • Wie kann ich „Amen“ sagen, wenn ich die Bitten des Vater­unsers nicht wirklich ernst nehme?

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